Juppe trifft Sari

Geschichten über Stoffe und Begegnungen

 Nesa Gschwend / 2020

Was verbindet eine Bregenzerwäldner Juppe mit einem indischen Sari? Beides sind traditionelle Frauenkleider mit vielen Falten, verschiedenen Schichten und beide stiften kulturelle Identität.

Kleider - Stoffe erzählen Geschichten, die überall auf der Welt in unserer Menschheitsgeschichte tief verankert sind. Der bekannte Historiker Yuval Noah Hariri bezeichnete in einem Interview die Nadel als das vielleicht wichtigste und unterschätzteste Werkzeug in unserer etwa 20'000 jährigen Kultur-geschichte. Dank der Nadel konnten wir wärmende, schützende Kleider und Decken nähen und in kältere Gegenden wandern. Es gibt keine Kultur, die keinen Bezug zu Textilien hat. In den Tausenden von Jahren sind unzählige Gestaltungsformen und Techniken entstanden. Das Textile ist eine universelle Sprache, die überall, jenseits der verbalen Sprache, verstanden wird. Es ist nicht Zufall, dass im Wort Textil auch das Wort Text - Erzählen enthalten ist.

Ich bin im Rheintal aufgewachsen, einer Gegend die auf beiden Seiten des Rheins von der Textil-geschichte geprägt ist. Textilien spielten in meiner künstlerischen Arbeit von Beginn an eine zentrale Rolle. Lange habe ich mich auch mit Textilien aus meiner Herkunftsfamilie beschäftigt. Diese Werkserie konnte ich 2017 unter anderem auch in der Johanniterkirche in Feldkirch zeigen. Aus diesem Kontakt entstand die Verbindung zu Bettina Steindl, Theresa Bubik, Lisa-Maria Alge und Stefania Pitscheider-Soraberra. Ich schlug ihnen vor, mit dem Projekt Living Fabrics, an dem ich seit 2015 am Entwickeln war, nach Vorarlberg zu kommen. Der Gedanke hinter diesem Projekt ist: In ein grosses gemeinsames Netzwerk viele ganz unterschiedliche Personen integrieren zu können, in dem durch die Stoffe auch die Menschen und ihre Geschichten gespeichert werden. Die Stoffe, die Fäden, das Machen mit den Händen löst bei vielen Beteiligten existentielle, persönliche Lebenserfahrungen aus. Nicht nur Stoffe, auch Geschichten werden in den Treffen ausgetauscht. Daraus entwickelte ich anschliessend Objekte und Videos, die wieder an andere Orte weiterwanderten, um den Faden weiterzugeben, damit das Netzwerk weiterwachsen konnte.

2017 verbrachte ich einige Monate in Indien und reiste zusammen mit Social-Workers in viele Dörfer und Slums in Tamil Nadu. Hunderte Frauen und Kinder haben sich an diesem Austausch beteiligt. Die Stoffe der Saris mit ihren bunten Farben erzählen von ganz anderen Lebensentwürfen.

 

Im Sommer 2018 kam ich mit denselben grossen Taschen voller Stoffe, mit denen ich auch durch Tamil Nadu gereist bin, nach Dornbirn. Die Saris, die Geschichten der indischen Frauen und Kinder waren schon in das Projekt integriert.

Ein grosser, schützender Baum, Textilien, eine Gruppe Menschen, die zusammen etwas machen, erzählen, singen ist ein Bild, das seit Jahrtausenden überall auf der Welt immer wieder entsteht, auch in Dornbirn unter der grossen Linde hinter dem Kulturraum. Kinder von zwei Klassen und einige Erwach-sene stickten zusammen, tauschten Stoffe und Geschichten aus. Eine Lehrerin erzählte, dass ein türkisches Mädchen aus ihrer Klasse eine so schöne Stimme habe. Auch die Kinder baten sie, für uns ein türkisches Lied zu singen. Sie sang mit schönster Stimme ein Liebeslied, wie ein Junge aus der Klasse übersetzte. Er sagte, dass dieses Lied von einer traurigen Liebe erzähle, wie die meisten Lieder.

Mit neuen und auch alten Geschichten und Stoffen reiste ich weiter nach Hittisau ins Frauenmuseum. Den Morgen verbrachten wir zusammen mit einer Gruppe von Mädchen aus der nahen Schule und einigen Frauen, die aus Deutschland, der Schweiz und Österreich extra dafür anreisten. Heterogene Gruppen, wie diese, die vom Altersspektrum zwischen zehn und knapp achtzig war, können für alle sehr bereichernd sein. Die älteren Frauen erinnerten sich an die Stiche, die sie früher gelernt hatten und tauschten sich über ihre Schulzeit aus. Einige Mädchen mit zerrissenen Jeans suchten Stoffstücke, mit denen sie die Hosen hätten flicken können. Die Idee wurde wieder verworfen. Zurzeit sind zerrissene Hosen mehr in Mode als geflickte. Eine andere Gruppe fragte sich, wann sie letztes Mal etwas von Hand genäht hätten, vielleicht vor zwei Jahren oder so? In der Abschlussrunde haben sich die Mädchen und die Frauen gegenseitig gezeigt, was sie gemacht hatten. Vieles hat sich verändert und doch ist vieles auch gleich geblieben. Wie zu Beginn brauchen wir den wärmenden Schutz der Stoffe, wollen sie gestalten, in die Hände nehmen - berühren und noch immer sind Menschen mit ein paar Textilien auf Wanderschaft - auf der Flucht.

Am Nachmittag kam eine Gruppe Flüchtlingsfrauen aus Syrien und Irak, zusammen mit ihren Kindern. Sie leben jetzt in der Nähe von Hittisau. Über den Austausch der Stoffe, das gemeinsame Tun entstand eine Kommunikation, eine Verbindung ohne verbale Sprache. Ein Mädchen sprach schon etwas deutsch und erzählte uns über ihren Alltag hier.

Amartya Sen, der indische Philosoph, der über Fragen der Gerechtigkeit und Identität geforscht hat, schrieb: „Wir müssen erkennen, dass wir sehr viele verschiedene Zugehörigkeiten haben und auf sehr unterschiedliche Weisen miteinander verbunden sind.“  So ist in all diesen Treffen mit Living Fabrics die zentrale Frage, was teilen wir, wo sind unsere Gemeinsamkeiten? Es gibt immer etwas, was mich mit einem anderen Menschen verbindet und durch die Fäden und das Manuelle - Greifbare kann das Gemeinsame zum Ausdruck kommen, dass auch Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen kann, um sich dazugehörig zu fühlen. Ich kann mit Living Fabrics keine Alltagssorgen lösen, aber ich kann den beteiligten Personen als Künstlerin einen Faden in die Hand geben, damit sie sich mit der Welt - den Anderen verbinden können.

Zu ihnen gesellte sich auch eine Gruppe Frauen aus dem Bregenzerwald. Renate Nussbaum, die im Frauenmuseum arbeitet, brachte einen Sack mit alten Kleidern mit, der schon seit Jahren bei ihr auf dem Estrich lag. Darin war auch eine handgenähte alte Juppe, mit fuchsia farbiger Schürze, kurzer Jacke und hellgrünem Schultertuch. In allen Teilen hat die Näherin ihren Namen, Ida Feuerstein, eingenäht. Wir alle bestaunten dieses Kleidungsstück und fragten uns, ob man das jetzt zerschneiden darf? Anders als auf dem Estrich wird die Tracht in diesem Projekt sichtbar, bekommt einen Platz, wenn auch nicht in traditioneller Form. Sie wird verwandelt und in ein künstlerisches Projekt integriert. Die Jacke schenkten wir dem syrischen Mädchen. Sie passte ihm genau. Ida muss klein und feingliedrig gewesen sein.

Renate, die Ida noch kannte machte den ersten Schnitt und wir alle schnitten ein Stück von Idas Juppe aus und stickten es zu anderen Stoffen dazu.

Transformation und Austausch, aus etwas Altem etwas Neues schaffen, sind Teil von diesem Prozess. Der Vogel kann nur zum Vogel werden, wenn das Ei zerbricht. Dafür braucht es die Zerstörung. „Schneiden ist zerstören und nähen ist heilen“, sagte Louise Bourgeois über das Arbeiten mit Textilen.

Ida taucht in ganz unterschiedlichen Objekten unverkennbar immer wieder auf. Mich hat sie auch im Atelier noch einige Zeit begleitet. Aus den Fragmenten von Idas Juppe sind Objekte entstanden, die ihr gewidmet sind. Eines befindet sich im Frauenmuseum, am Ursprungsort sozusagen.

Auch alle anderen gebrauchten Kleidungsstücke haben eine eigene Geschichte, doch ist die Geschichte von Ida, das von Handgenähte doch stärker als ein billiges T-Shirt, zu dem niemand eine enge Beziehung gepflegt hat.

Meine Arbeit als Künstlerin ist es anschliessend im Atelier, in einem langen Prozess all diese Fäden und Stoffteile zu verknüpfen und in den Objekten den Austausch zu verbildlichen. Jedes getragene Kleidungsstück trägt eine Geschichte in sich, jede Person, die physisch an einem Treffen dabei war bringt ihre einzigartige Geschichte mit und zusammen entsteht eine unüberschaubare Vielfalt an Lebensentwürfen, Freundschaften, Familie, Freude, Trauer und was sonst noch alles in den Stoffen eingeschrieben ist.

Im Jahr darauf gestalteten wir im Foyer des Frauenmuseums eine Ausstellung mit zwei grossen Objekten und dem Video über die Reise. Im Video werden die Menschen und auch die Orte sichtbar. Auch die Gruppen von Vorarlberg, die Reise über den Rhein, die Landschaft des Bregenzerwaldes habe ich in das Video eingeflochten. Die Juppe, die Flüchtlingsfrauen und das türkische Mädchen verbinden sich darin mit den Frauen in Georgien, den Kindern in einem Dorf in Südindien, ihrer Grossmutter, die nicht verstehen konnte, dass ich hier mit ihnen auf den Boden sitze und nähe, wo ich doch aus einem so schönen Land komme. 

Aus der Kulturhauptstadt ist nicht das geworden, was man sich erhofft hat. Die Vision von Bettina Steindl, Theresa Bubik, Lisa-Maria Alge und Stefania Pitscheider-Soraberra, dass der Rhein die beiden Ufer zu einem gemeinsamen Kulturraum verbindet, in dem es viel auszutauschen gibt, sollten sie aber trotzdem weiterspinnen. Das Vorarlberg, die Juppe ist eingewoben in Living Fabrics, verbunden mit den farbigen Saris aus Indien, dem geblumten Kopftuch aus Georgien, der afrikanischen Bluse und dem feinen Foulard aus Paris, dem bestickten Tischtuch aus Appenzell, dem gestrickten Pullover aus Fürth, dem roten Kinderkleid aus Basel...

Und die Begegnungen in Dornbirn und Hittisau haben stattgefunden, das ist was zählt.

Bis heute waren knapp zweitausend Personen, aus etwa fünfundsechzig Nationen und noch weit mehr unterschiedlichen Kulturen beteiligt. Die kleinsten Kinder waren etwa drei Monate, die älteste Frau fast neunzig Jahre alt. Das grosse Ungleichgewicht in diesem Projekt ist zwischen den Geschlechtern. Es sind etwa neunzig Prozent Frauen, die sich beteiligt haben, die bereit waren den Faden in die Hand zu nehmen, Verbindungen herzustellen und Welten miteinander zu verknüpfen. Textilien sind jedoch genauso existentiell für unser Menschsein wie essen und trinken. Das textile Denken ist in sehr vielen Lebensprozessen und Sparten tief verankert.

Auch die virtuelle Welt ist eng mit dem textilen Wissen verknüpft, sind doch fast alle Begriffe aus dem Textilen entlehnt. So verstehe ich Living Fabrics auch als ein Abbild unserer Zeit, als einen Austausch über unterschiedlichste Grenzen hinweg. Das Textile Denken und Verstehen ist dabei das verbindende Element.

Auf den Einwand, dass die Nadel doch nicht wirklich die wichtigste Erfindung der Menschheit war, meinte Yuval Noah Harari: „Nein, es gibt eine andere Erfindung, die noch viel wirkungsvoller war: „Das Erzählen und Erfinden von Geschichten.“

Den Faden von Living Fabrics werde ich wiederaufnehmen, wann immer es möglich sein wird. Fäden, Stoffe bieten überall auf der Welt noch viel Stoff für weitere Geschichten.